Mittwoch, 11 Juni 2008
Wenn die europäische Trägerrakete ARIANE 5 vom Weltraumbahnhof in Kourou (Französisch-Guyana) abhebt und in 180 Sekunden 100 km zurücklegt, hat sie nicht nur zumeist Kommunikationssatelliten geschultert, sondern auch ´Engineering made in Germany´ an Bord. Mit einem zehnprozentigen Hardwareanteil an der ARIANE 5 ist MT Aerospace AG (Augsburg) größter Zulieferer für dieses Programm außerhalb Frankreichs. Das Unternehmen entwickelt und fertigt Schlüsselkomponenten und -subsysteme der ARIANE 5: u. a. große Strukturen wie Boostergehäuse, Launcher und Tanks in Leichtbauweise. In der Arbeitsvorbereitung vertraut MT Aerospace seit 1999 der marktführenden NC-Simulationssoftware Vericut.
MT Aerospace
MT Aerospace AG ist etablierter Zulieferer für die Luftfahrt-, Raumfahrt- und Verteidigungsindustrie sowie Partner für Antennen- und Mechatronik-Systeme. Das Unternehmen erwirtschaftete im Geschäftsjahr 2007 mit rund 570 Mitarbeitern einen Umsatz von ca. 110 Mio. Euro. Im Sektor Raumfahrt entwickelt und fertigt MT Aerospace Komponenten und Subsysteme nicht nur für Trägerraketen sondern auch für Satelliten und Orbittransfer-Systeme. Der zugehörige Bereich Betrieb und Wartung am Standort Kourou in Französisch Guyana betreut unter anderem Integrations- und Startanlagen für die ARIANE 5. Beim Bau der Startanlagen für die Sojus-Trägerrakete in Kourou verantwortet und koordiniert MT Aerospace, das acht Prozent der Anteile der europäischen ARIANE-Vermarktungsgesellschaft ARIANESPACE hält, im Rahmen eines europäischen Konsortiums Teile der Bodenanlagen.
Komplexe Bauteile – komplexe Technologien
Schwerpunktkompetenzen bietet das Unternehmen bei der Entwicklung und der Herstellung von großen Strukturen und Tanks in Leichtbauweise auf. Zum Einsatz gelangen hier metallische Werkstoffe wie Aluminium und Titan sowie Faserverbund-Materialien, wobei sich die Bearbeitung durch besondere Fertigungstechnologien auszeichnet: z. B. Drückwalzen, Spinforming, komplexe Schweißmethoden und moderne Faserverbundtechniken.
Null Toleranz für Fehler
Optimierte, hochpräzise Bauteilfertigung ist nicht nur angesichts der hohen aerodynamischen, thermischen und mechanischen Beanspruchung der ARIANE-Bauteile Pflicht. Wenn Material und Werkzeuge einen Großteil der Bauteilkosten ausmachen, müssen bereits vor der Herstellung von Prototypen und Erprobungsteilen die Weichen auf Null-Fehler-Qualität gestellt sein. Vor diesem Hintergrund arbeitet der Fertigungsstandort Augsburg seit 1999 mit dem Simulationswerkzeug Vericut, um die Qualität der NC-Programme im Besonderen für Integralfrästeile der ARIANE 5 und Strukturteile für die Luft- und Raumfahrt vor der Produktion sicherzustellen.
NC-Verifikationssoftware Vericut
Vericut ist eine NC-Verifikationssoftware, die die CNC-Fertigung (Drehen, Bohren, Fräsen, Drahterodieren, Drehfräsen) simuliert, um Fehler im NC-Programm bereits vor dem realen Maschinenlauf herauszufinden. Und das unabhängig von Maschine, Steuerung und CAM-System. Die Software, die unter allen Windows-Betriebssystemen sowie Unix läuft, arbeitet sowohl mit NC-Code als auch mit der Ausgabe von CAM-Systemen. Vier Hauptfunktionen prägen das Programm: zum einen die Simulation des Materialabtrages mit Verifikation und Analyse, zum anderen die Optimierung der Bearbeitungsvorschübe des NC-Programms und die Simulation der Maschine.
Ein Bauteil – 600 Stunden Bearbeitungszeit
„An erster Stelle stand bei der Vericut-Einführung 1999 das Thema Sicherheit“, erläutert Hans-Peter Zotz, Leitung NC-Programmierung bei MT Aerospace in Augsburg, „vor allem angesichts der extrem langen Laufzeiten und der sehr teuren Rohteile.“ Was für Folgekosten eine mögliche Kollision oder ein Crash beim „trial and error“-Fertigungsprinzip nach sich ziehen würde, verdeutlicht das Beispiel Innerdome. Der halbkugelförmige Innerdome ist integraler Bestandteil der von MT Aerospace entwickelten ESC LH2-Tank-Struktur. Das Bauteil weist 4.000 zu fräsende Taschen auf – die Bearbeitungszeit pro Teil beläuft sich auch angesichts der geforderten Oberflächenqualitäten auf 600 Stunden.
Kollisionskurs ausgeschlossen
Schlichtweg inakzeptabel wäre da die herkömmliche Arbeitsweise, bei der der Programmierer das extrem umfangreiche NC-Programm nach bestem Wissen prüft und anschließend der Zerspanungsprozess auf der Maschine selbst Fehler aufzeigen muss. Und im ´worst case´ hohe Reparatur-, Wiederbeschaffungs- und Stillstandskosten, hohe Ausschüsse und nicht eingehaltene Liefertermine bzw. Konventionalstrafen anfallen. Indes gibt Zotz Entwarnung: „Seit dem Einsatz von Vericut traten keine Kollisionen auf, zumal die Programmeinfahrzeiten reduziert werden konnten. Außerdem dient Vericut zum Teil der Laufzeitoptimierung und zur Planzeit- bzw. Hauptzeitermittlung.“
Die Anwendung bei EADS überzeugte
Bevor sich MT Aerospace 1999 für Vericut entschied, statteten die Experten einem guten Nachbarn einen Besuch ab. Zotz rückblickend: „1999 wurde nach einer Simulationslösung gesucht. Bei drei benachbarten Unternehmen war Vericut zu dieser Zeit bereits im Einsatz, zum Beispiel bei EADS Augsburg. Nach Besichtigung aller drei Unternehmen war man vom Vericut-Einsatz überzeugt.“ Die Notwendigkeit der softwareseitigen Modernisierungswelle erklärt sich auch aus Neuanschaffungen im CNC-Maschinenbereich Ende der 90er, denn mit entsprechender Implementierung der HSC 5-Achs-Bearbeitung erhöhte sich auch die Kollisionsgefahr zwischen Werkzeug, Aufspannung; Werkstück und Maschinenkomponenten. Heute fertigt MT Aerospace die komplexen Bauteile auf 5-Achs-Bearbeitungszentren von u. a. Forest Liné, Fooke, Huron, Rottler und Carnaghi.
EDV-Geschichte gestern und heute
Das Streben nach schnellerer, sichererer und qualitativ hochwertigerer Konstruktion, Arbeitsvorbereitung und Fertigung zieht sich ohnehin wie ein roter Faden durch die EDV-Anwendungshistorie bei MT Aerospace. Mit dem CAD-/CAM-System Bravo (für 2 - 2½D) und APT4 (für 3D) Bearbeitung, befasste und arbeitete MT Aerospace bereits 1974, ehe die CAD-Systeme CATIA, Pro/E (ab 1996) und Vericut (ab 1999) Einzug hielten. Die interaktive NC-Programmierung erfolgt heute im 2D-Bereich mit CATIA, Pro/E und Bravo, im 3D vertraut MT Aerospace auf CATIA und Pro/E – Schnittstellenprobleme zu Vericut ausgeschlossen. Zurzeit sind folgende CAD-/CAM-Schnittstellen zu Vericut verfügbar: Mastercam, CATIA V4, CATIA V5, edgeCAM, TDM, Pro/E, Unigraphics, hyperMILL, PowerMILL und GibbsCAM, wobei Vericut natürlich die simulierte Fertigteilgeometrie als CAD-kompatibles Format exportieren kann (IGES, STL, CATV4, CATV5, STEP, ACIS). Dass MT Aerospace die NC-Programme für Fräsoperationen auch weiterhin mit Vericut prüft und optimiert, steht außer Frage. Vom signifikanten Mehr an Prozesssicherheit und den produktiveren Maschinenstunden durch Vericut will MT Aerospace bald auch im Bereich Drehen profitieren.